Fast ein halbes Jahrtausend vor Kolumbus setzt ein Wikinger als erster Weißer seinen Fuß auf amerikanische Erde. Er tauft die neu entdeckte „Vinland“. Noch immer streiten die Forscher, was Leif Eriksson wohl damit gemeint hat.
Das Meer ist tückisch, wer wüsste es besser als die Wikinger. Geheimnisvolle Strömungen können einen Seefahrer in die falsche Richtung ziehen. Heftige, schwer berechenbare Winde treiben mit dem Schiff oft ein böses Spiel. Aber das Meer ist auch eine Chance. Es hält Schätze für den Menschen bereit, die es zu entdecken gilt.
Der junge Leif Eriksson hat in seiner Familie erlebt, wie das Meer ein Leben verändern kann. Sein Vater, Erik der Rote , verließ eines Tages mit einem Boot die isländische Heimat, drei lange Jahre war er nicht zu Hause. Dann aber kam er endlich wieder und schwärmte von einen „Grünland“, das er im Westen gefunden hatte. Ein Jahr später, Leif war wohl um die acht Jahre alt, begab er sich mit seinen Eltern und Geschwistern auf die hohe See – und sah das grüne, fruchtbare Land, von dem der Vater gesprochen hatte. Es ist seine neue Heimat geworden.
Leif Eriksson hat gelernt, gut zuzuhören, wenn Seefahrer ihre Geschichten erzählen. Was der Kaufmann Bjarne Herjulfsson berichtet, klingt wie eine Wiederholung dessen, was Leif damals, im Jahr 985, von seinem Vater erzählt bekam. Er sei einmal, so sagt Bjarne, durch starke Winde von seiner üblichen Handelsroute weit nach Westen abgetrieben worden. Statt von Island nach Grönland sei er an eine Küste gekommen, die reich an Wäldern gewesen sei. Freilich sei er wohlweislich nicht an Land gegangen – man wisse ja nie, welche Gefahren einen dort erwarteten.
Wenn diese Darstellung aus der „Grönländer Saga“ stimmt, ist Bjarne der erste „Nordmann“ gewesen, der das neue Land gesichtet hat. Sein Hinweis auf die Wälder muss all den Wikingern, die hoch im Norden siedeln, ähnlich verführerisch in den Ohren klingen wie ein paar Jahrhunderte später den Spaniern die Legenden vom angeblichen Goldreich El Dorado. Holz gibt es weder auf Island noch auf Grönland. Es muss von Skandinavien in langen Fahrten über das Meer hergebracht werden.
Der Vater hat gezeigt, was mit Mut und Tatkraft zu schaffen ist. Leif Eriksson fühlt sich diesem Erbe verpflichtet. 999 unternimmt er eine wichtige Reise nach Norwegen. König Olaf Tryggvasson empfängt Leif Eriksson am Hof in Trondheim und bringt ihn dazu, sich als Christ taufen zu lassen. «In meinem Auftrag sollst du fahren, um das Christentum in Grönland zu verkünden», so zitiert die „Saga Eriks des Roten“ den Herrscher. «Mein Glück wird nur dann bei mir sein», so Leifs Antwort, «wenn auch eures mich begleitet.» Leif kehrt nach Grönland zurück und führt dort unverzüglich die neue Religion ein. Dies ist seine erste große Tat.
Die zweite wird in den Sagas, die 200 Jahre später entstehen, unterschiedlich beschrieben werden. Die „Grönländer Saga“ kommt den Ereignissen, die sich kurz nach der Jahrtausendwende abspielen, vermutlich am nächsten. Danach kauft Leif Eriksson das Schiff von Bjarne, das für den Holztransport besonders gut geeignet, relativ neu und daher wenig reparaturanfällig ist. Er sammelt 35 mutige Männer um sich. Vater Erik möchte auch noch einmal dabei sein. «Nahe dem Schiff aber strauchelte Eriks Pferd», so die Saga. «Er fiel herunter und verletzte sich den Fuß. Da sagte Erik: ‹Es soll mir nicht mehr vergönnt sein, weiteres Neuland zu entdecken…›.» So bleibt er auf seinem Hof Brattahlid zurück.
Leif Eriksson aber fährt hinaus auf die See. Er kennt sein Ziel nur vom Hörensagen, hat keine Karte, keinen Kompass, keinen Führer – und keine Ahnung, wie weit der Weg dorthin ist. Die Wikinger stoßen auf ein Land, das aus großen Eisfeldern besteht, «und zwischen Gletschern und Meer war alles wie eine einzige Steinplatte». Sie werfen den Anker, setzen Beiboote aus, rudern ans Ufer. Als sie nirgendwo Gras sehen, fahren sie zurück und segeln weiter. Leif Eriksson gibt dieser Küste den Namen Helluland (Steinland). Vermutlich ist er in Baffinland gewesen.
Dann sichten sie erneut eine Küste. Diesmal ist sie «flach und bewaldet, und so weit sie gingen, war weißer Sandstrand, der sanft zum Meer abfiel». Leif gibt dem Gebiet, wahrscheinlich einem Teil von Labrador, den Namen Markland (Waldland). Und lässt seine Männer vor Nordostwind noch ein Stück weitersegeln.
Zwei Tage später sehen sie zum dritten Mal Land. «Sie kamen an eine Insel, die nördlich vom Lande lag. Sie stiegen aus und sahen sich bei gutem Wetter um. Sie fanden, dass Tau auf dem Gras lag, und es geschah, dass sie die Hände zum Tau hin und dann zum Munde führten, und sie meinten, noch nie so etwas Süßes geschmeckt zu haben.» Sie kehren zum Schiff zurück, segeln an einer Landzunge entlang, laufen bei Ebbe im seichten Wasser auf Grund. «Doch sie waren so wissbegierig, an Land zu kommen, dass sie nicht warten wollten, bis die Flut wieder ihr Schiff anhöbe.» Als die Flut kommt, bringen sie das Schiff zur Mündung eines Flusses, der weiter oben einem See entspringt und sich dort ins Meer ergießt. Sie packen ihre ledernen Schlafsäcke und bauen sich die ersten Unterkünfte. Leif Eriksson ist der erste Wikinger, der seinen Fuß auf amerikanische Erde setzt. Die Insel, die er mit seinen Leuten betritt, ist sehr wahrscheinlich Neufundland.
Welch eine Gegend ist das! Im Fluss und im See wimmelt es von Lachsen. Die Temperaturen sind mild, das Gras von frischem Grün, selbst im Winter wird das Vieh hier keinen Futtermangel haben. Eines Abends, so die „Grönländer Saga“, ist Tyrkir verschwunden, der „Südmann“ aus Deutschland. Er hat viele Jahre bei der Erik-Familie gelebt, Leif Eriksson hat ihn schon in Kinderjahren lieb gewonnen. Beunruhigt bricht er mit zwölf Mann auf, um ihn zu suchen. Doch schon bald kommt Tyrkir ihnen strahlend entgegen. «Ich habe Weinstöcke und Weintrauben gefunden», so seine Worte. Wein? Tyrkir blickt, so die Saga, in ungläubige Gesichter. «Gewiss ist das wahr, denn ich bin doch dort geboren, wo Weinstöcke und Weintrauben keine Seltenheit sind.» Leif tauft diese Gegend Vinland. Ein Jahrtausend lang werden sich Forscher die Köpfe zerbrechen, was er wohl damit gemeint hat. Denn die Geschichte mit dem Wein klingt, selbst angesichts der warmen Klimaperiode zur Zeit dieser Wikingerreisen, nicht besonders glaubhaft. Allenfalls gibt es hier Beeren, die auch der Franzose Jacques Cartier, der im 16. Jahrhundert hier landet, als „wilden Wein“ bezeichnen wird. Wahrscheinlich verwechseln schon die Verfasser der Sagas das Wort Vinland (kurz gesprochenes i) mit Vínland (lang gesprochenes i). Letzteres heißt in der Tat „Weinland“, Ersteres aber „Weideland“.
Leif Eriksson und seine Leute überwintern in Vinland. Im Jahr darauf fahren sie nach Grönland zurück. Unterwegs retten sie den norwegischen Kaufmann Thorir und dessen Mannschaft, die als Schiffbrüchige auf einer Schäre gelandet sind. So erhält der Wikinger den Beinamen „Leif der Glückliche“.
Sein Bericht über Vinland sorgt zu Hause für ähnliche Aufregung wie gut 17 Jahre zuvor das „Grünland“ bei den isländischen Bauern. Um 1005 bricht sein Bruder Thorvald dorthin auf, 1006 sein Bruder Thorstein, 1010 der Kaufmann Thorfinn Karlsefni. Ein paar Jahrhunderte florieren die Wikingerkolonien. Dann versinken sie, wie die Grönlandsiedlungen, im Dunkel der Geschichte. Die Urheimat der Wikinger ist zu weit weg. Das Klima wird in den folgenden Jahrhunderten kälter. Und die Feinde sind in der Überzahl. Schon Bruder Thorvald wird das Vinland zum Verhängnis.
Er trifft an einer Küste drei Kanus mit neun schlafenden Menschen, Indianer oder Eskimos – skrælinger (Winzlinge), wie die hochgewachsenen Nordmänner sie nennen. Die Wikinger töten alle bis auf einen. Sie merken bald den schrecklichen Fehler, den sie da begangen haben. Der Überlebende holt Verstärkung, bald schwirren Hunderte von Pfeilen auf sie zu, und Thorvald wird tödlich getroffen. Es ist die erste Schlacht zwischen Weißen und amerikanischen Ureinwohnern. Jahrhunderte später werden ihr noch viele folgen.
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