Wegen Totschlags wird der Wikinger drei Jahre aus Island verbannt. Erik der Rote geht auf Entdeckungsfahrt nach Westen und landet an der Küste Grönlands. Mildes Klima und reiche Jagdbeute locken bald weitere Siedler an.
Im Norden sind die Sitten rau. Halb Europa macht ab dem 9. Jahrhundert diese Erfahrung. Kräftige Männer mit schnellen Schiffen tauchen aus Skandinavien an den Küsten des Kontinents auf. Sie plündern ganze Städte, legen sie in Schutt und Asche. So schnell, wie die Räuber auftauchen, sind sie auch wieder verschwunden. Auf dem Meer, so scheint es, fühlen sie sich wie zu Hause.
Das Volk der Wikinger ist von der Natur nicht verwöhnt. In seiner Urheimat, an Norwegens engen, windgepeitschten Fjorden, kämpfen Bauern, Fischer und Viehzüchter um eine karge Existenz. Da sind die Sitten so hart wie das Leben.
Thorvald Asvaldsson hat einen Menschen erschlagen. So berichten es zwei sagas, wie die Wikingerchroniken heißen, die zwei bis drei Jahrhunderte später entstehen. Deswegen muss der Täter Norwegen verlassen. Um das Jahr 950 steigt er mit seiner Familie ins Boot und sucht ein neues Leben in der Ferne. Wikinger fürchten die Weite des Meeres nicht – sie verbinden Hoffnungen damit.
Thorvald landet auf Island, wohin Wikinger schon 874 gekommen sind. Die besten Siedlungsplätze sind schon vergeben, die Zahl der Einwanderer nähert sich 50000. Thorvald muss daher nach Hornstrandir ausweichen, in eine öde, felsige Nordwestecke der Insel. Sein Sohn Erik aber, bei der Ankunft elf Jahre alt, wird seine Lage verbessern können. Als er Thjodhild heiratet, bringt sie eine ordentliche Mitgift mit. Damit kann sich das Paar einen neuen Hof im fruchtbaren Haukatal errichten.
Die Sitten aber sind auch in Island rau. Und Erik der Rote, wie die Leute ihn wegen seiner Haarfarbe nennen, hat das Temperament des Vaters offenbar geerbt. Seine Knechte, so eine saga, haben auf Valthjofs Hof «Erdmassen herabstürzen» lassen. Dafür werden sie von Eyjolf Rot, einem Verwandten Valthjofs, getötet. Erik seinerseits kann das nicht ungerächt lassen. Kurzerhand erschlägt er den Mörder und noch dazu einen freien Mann namens Holmgang-Hrafn.
Eyjolfs Verwandte bringen den Fall vor den für dieses Gebiet zuständigen Thing. Das Urteil lautet, dass Erik der Rote das Haukatal verlassen muss. Er sucht sich Öxney, die Ochseninsel, für seinen neuen Hof aus. Sie liegt ein Stück weiter im Westen vor der Küste, an der Mündung des Hvammsfjord in den Breidafjord. Bis der neue Hof fertig ist, wohnt die Familie in einer provisorischen Hütte.
Bettpfosten werden nun sein Schicksal. Für jeden Wikinger sind sie ein kostbares Erbstück, das von einer Generation an die andere übergeht. Erik hat dem Nachbarn Thorgest die Pfosten bis zur Fertigstellung des neuen Hofs geliehen. Thorgest aber hat sie offenbar als Geschenk betrachtet – und weigert sich nun, sie zurückzugeben.
Eigentlich ist das wieder ein Fall für den Thing. Erik der Rote aber geht nicht den Rechtsweg. Er nimmt die Sache wieder selber in die Hand. Als Thorgest nicht auf seinem Hof ist, holt er sich die Pfosten. «Doch Thorgest setzte ihm nach», so die Chronik. «Sie schlugen sich nahe beim Hofe Spitzklipp. Dort fielen zwei von Thorgests Söhnen und einige andere Männer.» Und damit wird Erik der Rote ein zweites Mal vor den Thing gezerrt. Das Gericht fällt im Mai 982 einen milden Spruch und erkennt nur auf die Mindeststrafe: drei Jahre Verbannung von Island.
Wie sein Vater sucht auch Erik der Rote sein Heil im Westen. Er packt seine Sachen in ein Schiff, das hochseetüchtig ist. Es hat einen Kiel aus Eiche, Taue aus Walrosshaut und Segel aus Wolle, die mit einer rautenförmigen Lederbespannung überzogen sind, um ein Ausbeulen zu verhindern. Eine Mannschaft von 15 Männern und fünf Sklavinnen legen sich in die Ruder. So sticht das Schicksalsboot in See.
Die Wikinger haben einen Messstab, mit dem sie zu bestimmten Tageszeiten den Sonnenstand und dadurch die geographische Breite ermitteln können. Sie lassen auch Bastfäden am Flaggenstab in der Luftströmung wehen. So kann der Steuermann die Windrichtung feststellen und das Schiff auf Kurs halten, indem er den Winkel zwischen den Fäden und der Längsachse des Boots im Auge behält.
Erik der Rote hat ein Ziel, das er vom Hörensagen kennt. Jäger haben auf Island mehrfach von Land berichtet, das sie im Westen gesichtet hätten. Ein gewisser Gunnbjörn will dorthin verschlagen worden sein, als er mit seinem Schiff vom Kurs abkam. Nach einer Fahrt von mehr als 800 Kilometern blicken die Wikinger tatsächlich auf eine Küste. Sie ist kahl und abweisend, ein dunkelblauer Gletscher steigt hinter ihr hoch. Sie segeln die Küste entlang nach Süden, umfahren wahrscheinlich das Kap Farvel und folgen dem Landstrich Richtung Nordwest – und allmählich wird der Boden grün.
Erik der Rote und seine Leute haben das Glück, ihre Fahrt in einer Zeit zu unternehmen, die Wissenschaftler später als das „Kleine Klimatische Optimum“ bezeichnen werden. Es hat um 970 begonnen und wird noch bis 1200 dauern. Während dieser Epoche steigen die Temperaturen in dieser Region deutlich an, die Vegetationsgrenze verschiebt sich um 500 Kilometer nach Norden. Die Ankömmlinge aus Island bauen sich ein Winterquartier auf einer kleinen Insel vor der Küste.
Im folgenden Sommer beginnen sie, das neue Land zu erkunden. Sie finden keine Menschen, wohl aber menschliche Spuren: Grundrisse von Inuit-Häusern, die vor vielen Jahrhunderten errichtet wurden. Irgendwann zwischen 500 und 800 haben sie die Gegend wohl wieder verlassen, weil das Klima feucht und ungemütlich wurde. Die Wikinger fahren noch weiter hoch nach Norden, erblicken breite Fjorde und Grashänge. Es gibt zwar keine Bäume, doch ständig wird Treibholz hierher gespült. Dieses Land, erkennt Erik der Rote, ist unsere Zukunft.
Von Neugierde getrieben, gehen sie noch einmal auf Westkurs. Nach fast 450 Kilometern stoßen sie erneut auf eine Küste. Sie gehört zu einer Insel, die Jahrhunderte später den Namen Baffinland erhalten wird. Da sie alles andere als einladend ist, kehren die Wikinger zu den fetten Weiden zurück. Doch sie haben den Reichtum gesehen, den alle Gewässer und Küstenstriche hier bergen: Eisbären und Polarfüchse mit prächtigen Fellen, Narwale und Walrösser mit mächtigen Zähnen. Dies alles lässt sich – Wikinger sind auch gute Kaufleute – für viel Geld nach Europa bringen.
Nach den drei Jahren Verbannung kommt Erik der Rote 985 wieder in Island an. Er schwärmt von den neuen Siedlungsplätzen – und nennt sie „Grünland“, um seinen Landsleuten die entdeckten Gestade schmackhaft zu machen. Schon ein Jahr später sticht eine ganze Wikingerflotte Richtung „Grünland“ in See: 25 Schiffe mit 500 bis 700 Insassen. Sie geraten in fürchterliche Stürme, elf Schiffe gehen dabei unter. Die verbliebenen 14 aber schaffen es. Die ersten 300 Wikinger lassen sich 986 auf Grönland nieder. An der Westküste gründen sie die Siedlungen Eystri byggd und Vestri byggd (Östliche und Westliche Siedlung). Ihre Höfe liegen meist an Fjorden, stets an Bächen, rund 50 Meter über dem Meer – mit einem herrlichen Blick auf das Wasser.
Rund zehn Häuptlinge gehören zu den Männern der ersten Stunde. In dem berühmten Landnamabok werden einige von ihnen erwähnt: Sölve vom Sölvedal, Herjolf vom Herjolfsfjord, Ketil vom Ketilsfjord, Hrafn vom Hrafnfjord. Doch ihr unangefochtener Führer ist Erik der Rote. Er hat sich vom Raubein zu einem weitsichtigen Kolonisatoren gewandelt. Sein Hof Brattahlid, 15 Meter lang und 4,2 Meter breit, ist der größte in Grönland. Er hat Platz für 40 Stück Vieh und wird von einem Bach geradewegs durchflossen. «Erik der Rote wohnte auf Steilhang», berichtet die Chronik. «Man wertete ihn sehr hoch, und alle beugten sich vor ihm.»
Mit der Einführung des Christentums, die im Jahr 1000 beschlossen wird, will er nichts zu tun haben. Seine Frau konvertiert zu der neuen Religion und baut sich etwas abseits vom Hof aus Torfsoden eine kleine Kapelle. Erik der Rote aber bleibt bei den alten Göttern.
Das Lebenswerk, das Erik der Rote hinterlässt, zieht immer mehr Wikinger an; ihre Zahl steigt bis auf 3000. Die Kolonie Grönland wird ein paar Jahrhunderte Bestand haben, ehe dort die Nordmänner aussterben und ihre Kultur in der Geschichte versinkt. Erik der Rote aber, Grönlands Entdecker, hat sich in der Landschaft verewigt. Er hat einen Fjord und eine Insel auf seinen Namen getauft.