Als Runen bezeichnet man die alten Schriftzeichen der Germanen. Der Sammelbegriff umfasst Zeichen unterschiedlicher Alphabete in zeitlich und regional abweichender Verwendung.
Runen können einerseits als Zeichen für jeweils einen Laut (oder im Fall der ng-Rune für eine Lautverbindung) geschrieben werden (Alphabetschrift), andererseits als Zeichen stehen für die jeweiligen Begriffe, deren Namen sie tragen. Daneben können sie Zahlen darstellen oder als magisches Zeichen verwendet werden. Abgesehen von einer kurzen Phase im hochmittelalterlichen Skandinavien wurde die Runenschrift nicht zur Alltagskommunikation verwendet und die Zeichenformen entwickelten sich nicht ausgerichtet auf eine flüssige Gebrauchsschriftlichkeit.
Verbreitung
Runen waren vom 2. bis zum 14. Jahrhundert n. Chr. überwiegend für geritzte und gravierte Inschriften auf Gegenständen und auf Steindenkmälern in Gebrauch. Ihre Verbreitung zeigt von Anfang an einen deutlichen Schwerpunkt in Südskandinavien (einschließlich Jütlands). In den anderen Siedlungsräumen germanischsprachiger Völker ist nur eine dünne Streuüberlieferung zu finden, die außerdem mit dem jeweiligen Einzug des Christentums zum Ende kommt. Die Christianisierung Nordeuropas hatte flächendeckend den Wechsel zur lateinischen Schrift zur Folge. Die Verwendung von Runen endete in Mitteleuropa vor 700 n. Chr. und in England im 10. Jahrhundert. Nur in den nordischen Ländern hielt sich der Gebrauch der Runenschrift bis ins 15. Jahrhundert. Die Runeninschriften in der Landschaft Dalarna in Mittelschweden, die bis in das 19. Jahrhundert reichen, entstammen einer gelehrten Tradition und zeugen nicht für eine lebendige Verwendung als Schriftsystem.
Der weitaus größte Teil der gut 6.500 bisher bekannten Runeninschriften[1] stammt aus dem Skandinavien der Wikingerzeit. Die ältesten Inschriften datieren aus dem 2. Jahrhundert und stammen aus Moorfunden in Schleswig-Holstein, in Jütland und Fünen in Dänemark, sowie in Südschweden. Als älteste Runeninschrift gilt derzeit der Name harja auf dem Kamm von Vimose, der in die Zeit 150–200 n. Chr. datiert wird. Die Fibel von Meldorf ist eine in Schleswig-Holstein gefundene bronzene Rollenkappenfibel (Gewandspange), die auf die Zeit zwischen 50 und 100 n. Chr. datiert wird. Sie ist damit zwar älter als der Kamm von Vimose, doch besteht die vierbuchstabige Inschrift nicht sicher aus Runen; ihre Lesung ist deshalb umstritten, es könnte aber eine Vorstufe der Runen sein.[2] Etwas jünger ist die auf einer eisernen Speerspitze eingeritzte Bezeichnung raunijaR (der Stamm raun- = ‚versuchen‘, ‚erproben‘). Die Spitze wurde in einem Grab aus der Zeit um 200 n. Ch. in Øvre Stabu (Oppland) Norwegen gefunden.[3]
Die Verwendung der Schrift war vor der Christianisierung in den germanischen Kulturen, die Runen gebrauchten, nicht tief verwurzelt; Schriftkulturen waren sie allenfalls ansatzweise. Schrift- und lesekundig war wie überall nur eine kleine Elite von Schreibern. Die Runenschrift entwickelte sich daher auch später nie zu einer Buch- und Urkundenschrift und erfasste niemals so weite Bereiche der Alltagskommunikation und des kollektiven Gedächtnisses wie die lateinische Schrift. Literatur, Liturgie, Geschichte und Recht wurden zunächst mündlich, später lateinschriftlich überliefert. Runen wurden vor allem für Inschriften zum Gedenken an Verstorbene oder an besondere Ereignisse, zur Weihe oder zum Verschenken von Gegenständen, als Besitzerangaben und als Münzinschriften verwendet. Im hochmittelalterlichen Skandinavien bildete sich, in Konkurrenz zur lateinischen Schrift, eine Art Gebrauchsschriftlichkeit in Runen aus.
Bezeichnungsherkunft
Die Etymologie des Wortes neuhochdeutsch Rune mit der Bedeutung ‚Schriftzeichen aus der den Germanen eigenen Schrift‘ ist nicht endgültig geklärt. Entweder ist es zu einer Wurzel urgermanisch *rūn- (u.a. fortgesetzt in gotisch runa; verwandt damit sind auch die deutschen Wörter raunen und Geraune) mit der Bedeutung ‚Geheimnis‘ zu stellen oder es gehört zu einer homonymen Wurzel *rūn- ‚Einritzung‘. Das neuhochdeutsche Wort Rune stellt eine gelehrte Entlehnung aus der 2. Hälfte des 17. Jh.s aus dänisch rune ‚Buchstabe im alten Alphabet der Germanen’ dar (bei einer direkten Fortwirkung des alten Wortes wäre im Neuhochdeutschen die Lautung **Raune zu erwarten gewesen). Dennoch ist die Bezeichnung der germanischen Schriftzeichen mit dem urgermanischen Wort *rūnō- bereits alt; sie findet sich schon in der Runeninschrift auf dem Stein von Einang (ca. 350-400) als akk. sg. runo. Außerhalb der Runeninschriften findet sich das Wort latinisiert in einem Gedicht (um 565) von Venantius Fortunatus (Carmina VII, 18), der im fränkischen Merowingerreich mit Runen in Berührung gekommen sein könnte: Barbara fraxineis pingatur rhuna tabellis / quodque papyrus agit virgula plana valet („Die Rune der Barbaren mag man auf eschene Tafeln zeichnen; was der Papyrus vermag, tut der geglättete Zweig“). Von den Buchenstäben, auf die die Runen geritzt wurden, leitet sich das Wort Buchstabe ab.
Ursprung
Die Runen sind vermutlich weder unabhängig entstanden, noch sind sie von den Germanen als fertiges Schriftsystem übernommen worden, sondern wurden weitgehend eigenständig nach Vorbildern südeuropäischer Schriften entwickelt. Sie treten allerdings schon sehr früh als komplettes Alphabet mit 24 Buchstaben auf. Vor allem die lateinische Schrift, aber auch die zahlreichen vom Lateinischen verdrängten und untergegangenen Schriften des keltisch-alpin-italischen Raums kommen als Vorbilder in Betracht. Runen gehen damit – sowohl in ihrem Prinzip einer Buchstabenschrift als auch in der Form vieler Lautzeichen – letztlich auf die große phönizisch-aramäische Familie von Alphabeten zurück, die im 1. Jahrtausend v. Chr. im Gebiet des Libanon und Syriens entstanden sind und zu denen auch alle heutigen europäischen Schriften gezählt werden.
Der Ursprung der Runenschrift ist zeitlich und räumlich kaum zu erhellen, weil die ältesten Belege eben bereits einen etablierten Satz von Zeichen präsentieren. Das erste gesicherte Auftreten von Runen, und zwar auf der Halbinsel Jütland (südlich bis ins heutige Schleswig-Holstein) sowie in Schweden, fällt in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts (Gegenstände wie z. B. Waffen aus Mooropferplätzen in Jütland wie Vimose, Illerup Ådal, Nydam, Thorsberg). Vorstufen der Schrift, an denen ihre Entstehung nachzuvollziehen wäre, konnten nicht zweifelsfrei identifiziert werden. Das äußerliche Charakteristikum der Runen ist die Vermeidung waagrechter und gebogener Linien, was früher immer wieder die Vermutung aufkommen ließ, dass es sich um eine Buchstabenumformung handelt, die dazu geeignet sein sollte, vor allem in hölzernes Material geritzt zu werden. Man nahm folglich an, dass Vorstufen der Runen nur deshalb nicht bewahrt sind, weil ihr mutmaßlicher Träger Holz sich schlechter als Metall erhalten hat. Neuere Funde (z. B. Moorfunde von Illerup Ådal, Dänemark) zeigen jedoch auch gerundete Formen (z. B. bei der Odal-Rune) auf metallenen Waffenteilen.